"Sie war 17 Jahre alt und sah aus wie ein Engel"
Geschrieben von: Frankfurter Allgemeine Zeitung   

Freitag, den 07. Oktober 2011

 

Von Sarah Buch

 

Foto: Maria Irl

Eine Rentnerin engagiert sich für die Rechte der Mütter in der Haftanstalt Preungesheim / Auch männliche Häftlinge sollen mit ihren Kindern zusammenleben dürfen



Helga Matthiessen stellt eines klar: "Im Verein Mutter-Kind-Heim Preungesheim sind wir nicht der Ansicht, dass Verbrechen ungestraft bleiben sollen." Energisch streitet sie aber auch für die Rechte der verurteilten Frauen: "Wir sehen in einer Strafgefangenen vor allem den Menschen."


Seit mehr als 40 Jahren setzt sich Matthiessen für die Mütter in der Frauenhaftanstalt Preungesheim ein. 1968 war ihr ein Plakat in der eben eröffneten Frankfurter U-Bahn aufgefallen. Darauf war ein ungeschnürter Kinderstiefel zu sehen und der Hinweis, es gebe Kinder, deren Mütter ihnen nicht die Schuhe binden könnten - weil sie im Gefängnis säßen. Dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los, sie ging zur ersten Versammlung des Vereins und engagierte sich schließlich  als Gründungsmitglied für ein Mutter-Kind-Heim in der Frauenhaftanstalt Preungesheim, dem einzigen Frauengefängnis in Hessen.


Bis heute ist sich die 78 Jahre alte Frau sicher: "Das kann jedem passieren, dass man einer schwierigen Lebenssituation einfach nicht gewachsen ist." Da gab es die Jugoslawin, die mit 15 verheiratet wurde, nach Deutschland kam und von ihrem Mann zu Hause eingesperrt wurde. Oft von ihm misshandelt, verlor sie ihr Kind - und wollte das dritte Ungeborene schützen. Der Ehemann wurde mit Benzin überschüttet und angezündet, er verbrannte. "Sie war 17 Jahre alt; sah aus wie ein Engel."


Redet Helga Matthiessen so über die Mütter, erscheint sie gutgläubig, fast naiv. Doch in mehr als vier Jahrzehnten Ehrenamt hat sie viel Erfahrung gesammelt. Sie begann als Revisorin, die Spenden und Bußgelder abrechnete. Aus dieser Quelle finanziert sich der Verein zum Teil noch heute. 1975 wurde das Mutter-Kind-Heim eröffnet. Nun wollte sie auch die Menschen kennenlernen, für die sie sich engagierte. Also geht sie seitdem einmal in der Woche in die Haftanstalt und besucht die Straftäterinnen.


Matthiessen selbst zog neben ihrer beruflichen Tätigkeit in einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft drei Kinder auf, ihr Ehemann hat ihr Engagement erst geduldet, dann aktiv gefördert. Viele Jahre war sie Schatzmeisterin, dann erste Vorsitzende, heute ist sie noch Stellvertreterin. Auf die Frage nach ihrer Motivation erwidert sie nachdenklich: "Frauensolidarität, Emanzipation, Gleichberechtigung." Ideale, die schon ihre Großmutter vertreten habe. "Kinder sind keine Privatangelegenheit, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe", besonders wenn sie ihre ersten Lebensjahre im Gefängnis verbrächten, meint sie.
Wie der Sohn einer Amerikanerin, deren Mann zu viel trank. Als der Soldat sie würgte, verteidigte sie sich mit einem Messer. "Das traf unglücklicherweise die Aorta", berichtet Matthiessen. Weil die Amerikanerin aus Notwehr handelte, sprach ihr das deutsche Familiengericht das Sorgerecht für den kleinen Sohn zu. Doch in den Vereinigten Staaten klagte die Großmutter.


Also suchte der Verein nach einem Anwalt, zahlte dessen Gebühren und half mit der Korrespondenz. Ich war ja staatliche Übersetzerin und hatte eine Zulassung bei Gericht", erzählt Matthiessen. Die Gegenklage war erfolgreich, die Frau kehrte mit ihrem Sohn in die Vereinigten Staaten zurück - und hat sich bis heute nicht mehr gemeldet. "Sie konnte ja weder schreiben noch richtig lesen", sagt Matthiessen nachsichtig und hofft, dass die Frau alles für ihren Sohn tun wird. "Der Kleine war sehr aufgeweckt." Er ist im Gefängnis aufgewachsen, mit zwei anderen Jungen.


Helga Matthiessen kümmert sich seit 36 Jahren um diese Frauen und ihre Kinder. "Manchmal nennen sie mich die "Chefgefangene", fügt sie amüsiert hinzu. Mit den Müttern bespricht sie unter vier Augen individuelle Probleme, mal geht es um das Essen, mal um neue Kleidung für die Kinder.


Allerdings kümmert sich der Verein nicht nur um Insassen im geschlossenen Vollzug. Frauen, die über das Wochenende nach Hause entlassen werden, können beispielsweise bei den Helfern Fahrgeld beantragen. "Da wird doch niemand glücklich, wenn die Mütter sonst in Frankfurt festsitzen und die Kinder nicht zu sehen kriegen", sagt Matthiessen. Es sind auch die kleinen Dinge, die die Rentnerin und ihr Verein in Bewegung bringen. "Stillende Frauen können keinen Kohl essen", sagt Matthiessen. Nun soll auf ihre Initiative hin die Ernährung für die Frauen umgestellt werden. Generell werde versucht, den besonderen Bedürfnissen der Frauen Rechnung zu tragen.


Nach so langer Zeit kennt sich Helga Matthiessen inzwischen auch gut in Rechtsdingen aus. Als die Förderalismusreform eine Veränderung im Strafvollzug vorsah, durfte sie den Gesetzesentwurf beurteilen, wie sie sagt - und sie sah außer Mängeln auch Chancen. Seit der Reform sei das Strafvollzugsgesetz in Hessen geschlechtsneutral formuliert, sagt die Ehrenamtliche. Nun könnten auch Männer den Anspruch erheben, mit ihren noch nicht schulpflichtigen Kindern im Gefängnis zu leben - wie die Frauen im Mutter-Kind-Heim. Die Landesregierung habe solche Einrichtungen ursprünglich nicht geplant; das sei jedoch nachträglich geändert worden.


Helga Matthiessen glaubt allerdings nicht, diese Änderung noch mitgestalten zu können. Sie arbeitet schon die zukünftige Schatzmeisterin ein. Die 41 Jahre alte Frau ist ihre ehemalige Chinesischlehrerin und arbeitet in Frankfurt als Bankerin.


Für den Verein und seine Ziele will sich Matthiessen, die mit dem hessischen Ehrenbrief ausgezeichnet wurde, aber weiterhin einsetzen. "Wir repräsentieren die Öffentlichkeit gegenüber den Gefangenen - die Gefangenen gegenüber der Öffentlichkeit." So stand auf der Geburtstagseinladung für ihren Mann ein Spendenaufruf zugunsten des Mutter-Kind-Vereins. Auf Geschenke verzichteten die Eheleute.


Sarah Buch